Dienstag, 12. Juni 2012

Reggae/Dancehall frisst Hiphop? - Ein kurzer Erfahrungsbericht.

Okay, also der folgende kleine Artikel mag hier und da ein wenig unüberlegt und schnellschuss-artig anmuten - und das ist er sicher auch, keine Frage! - aber ich habe halt am Wochenende ein paar Beobachtungen gemacht, die mich zum kurzfristigen Nachdenken gebracht haben. Check it:

Also ich habe mir schon seit Jahren eine Idee zurechttheoretisiert, nach welcher Reggae- bzw. Dancehall-Musik (mit allem, was dazugehört) sowas wie Rapmusik minus Ca$h ist.





Diese Theorie lässt sich meiner Meinung nach an verschiedenen Aspekten der "Kultur" (brrr, bei sowas schüttelt's mich immer...sorry) verifizieren:
So ist Jamaika, als Ursprungsland dieser Musikrichtung, zunächst mal arm. Richtig arm. Hohe Gang-Aktivität, Gewalt/Waffen + Drogen plus Korruption haben dieses Land seit Dekaden im Griff, und stellen zudem einen fruchtbaren Nährboden für junge, angriffslustige und, ja, progressive Musik dar.
Gegen die dunklen Nebengassen Kingstons wirken die ach-so-gefährlichen Straßenzüge in der Bronx oder Compton wie friedliche Zellen des zivilisierten Miteinanders...



Auch die Sprache und der Umgang miteinander (äh, und mit Frauen, insbesondere) ist direkter, roher und weniger chiffriert und subtil als in den oben genannten Brennpunkten.
Ich habe dazu immer formuliert, dass z.B. der übelste, rüpelhafteste Verse von, hm, sagen wir Ol' Dirty Bastard, niemals die ungefilterte, zügellose rawness eines handelsüblichen Dancehall-Texts erreichen kann...



Dazu kommt die ausgeprägte Tanzkultur, die zwar auch in den USA und (was nur wenigen klar ist) im Hip Hop einen wesentlich größeren Stellenwert hat als hier bei uns, die jedoch auf Jamaika derart lebhaft und impulsgebend für die Musik wirkt, dass das Eine (die Musik) nicht ohne das Andere (die Tänze) denkbar wäre.
Dieser Umstand verschiebt den Fokus im Konsumverhalten der Hörer von Reggae/Dancehall in Richtung "tunes", im Gegensatz zu "Alben", wie bei Hip Hop heute häufig üblich. Die ganze Szene kann durch einzelne "tunes" auf den Kopf gestellt werden...neue, nie dagewesen Tänze oder auch Sprach-Codes und gänzliche neue slanguages generieren und und und. Verkaufszahlen und Charts spielen dabei verständlicherweise höchstens eine enorm untergeordnete Rolle.



Was man insgesamt feststellen muss, ist dass viele der obig aufgeführten Attribute - zumeist in leicht gemäßigter Form - auch auf die anfänglichen Manifestationen von Hip Hop Musik zutrafen.
Allerdings muss man nur einen kurzen Blick auf die initiale Verwobenheit der beiden Musikstile werfen, um zu erkennen, dass diese anfangs ähnlich gearteten Attribute hauptsächlich auf den Einfluss von Reggae/Dancehall-Kultur zurück zu führen sind...[Stichwort: Block Parties, Soundsystem-Kultur, Kool Herc, etc. - Anm. D. Red.]




Jau...in der moderneren Rap-Landschaft fällt auf, dass feature-Parts von auf Jamaika respektierten Artists immer eine Art Ritterschlag der Kredibilität für Rapper darstellt:
Gerne schmücken sich - insbesondere in Verdacht des Sellouts und des Straßen-Verrats geratene - Rapper mit Reggae-Dancehall-Kollaborationen, um (mehr oder minder überzeugend) etwas Straße, gutter und rawness zu kanalisieren.


Guerilla Black feat. Beenie Man - Compton [S Dot] von oddbunny

Denn jeder weiß:
Wenn der gemeine Rapper von Drogen, Waffen, Leute-abknallen, Gewalt & Frauenfeindlichkeiten redet, handelt es sich zumeist um Wunsch-Fantasien, Märchengeschichten und verklärte Ghetto-Romantik - wohingegen der gemeine jamaikanische Artist genau das meint, was er erzählt, und demnach wirklich mit Waffen um sich schießt, wenn er in seinen Texten davon redet seine Feinde zu vernichten, und und und...

So gesehen sind die Zustände in der (jamaikanischen) Reggae/Dancehall-Szene so etwas wie die Blaupause oder zumindest herbeigesehnte/glorifizierte Lebensrealität 90% aller modernen Rap-dudes.



Soweit zu meinen bereits bestehenden Theorien.

Nun war ich am vergangenen Freitag auf einer Feier der in Oldenburg bereits etablierten "Mash Up Di Place"-Partyreihe (Grüße an dieser Stelle an den mächtigen Puerto Rigo, yo), und nach ein paar sehr sommerlichen, erfrischend-fruchtigen Sex On The Beachs (danke an dieser Stelle an Vokallfett, yo) schaute ich mir das dargebotene Szenario aus der Beobachterperspektive an, und kam ins grübeln und überlegen:

Ich sah DJs, welche die aktuellen, relevanten und einfach gutklingenden Tracks spielten...und einen Soundboy, der seiner Aufgabe sehr akribisch nachkam, und das Publikum mit anheizenden/motivierenden Sprüchen und Schnacks zum Tanzen, lighters lighten und tree-blazin' oder sonstwas motivierte.
So. Das mag und darf man nun natürlich alles furchtbar kritisch sehen, die geringen mixing-skills/das viele Laser-/Soundeffekt-Geballer verteufeln, oder sagen dass das ganze Animateur-Getue enorm nervig ist und whatnot - meinetwegen zu recht! - aaaaber:
Insgesamt kam mir doch eher der Gedanke, dass die Szene, die sich mir darbot, womöglich viel mehr den Spirit der frühen Hip Hop Parties usw. versprühte, als es heutige "Hip Hop Parties" tun oder tun möchten.

Alle Anwesenden hatten Bock; so wie ich das beurteilen kann kannten auch die meisten Leute die meisten tunes, so dass sie jeweils schon geflippt sind, wenn die entsprechenden Tracks erst ein paar Sekunden angespielt wurden. Getanzt wird natürlich sowieso.

Ist das nicht genau das, was man sich von ner Hip-Hop-Veranstaltung wünschen würde? Ein interessiertes, aktives und motiviertes Publikum, welches einzelne Track abfeiert, und nicht bloß skeptisch und mit verschränkten Armen wenig mehr als aktives mean-muggin betreibt?

Ich befürchte halt, dass nicht nur die gesamte Hip Hop "Szene" im Vergleich zur Reggae/Dancehall-Szene geradezu verkümmert wirkt, sondern dass auch die dazugehörigen Parties in Sachen Spaß, Partizipation, Tanz und uneingeschränkter Freude an Musik sich weit von dem entfernt hat, was diese Veranstaltungen (möglicherweise!?) einst ausmachte.

Man kann nun verschiedenste Gründe sind für diesen Mißstand auflisten...doch an erster Stelle sehe ich - so blöd das auch klingen mag - die große weltweite Beliebtheit von Hip Hop-Musik (die wiederrum auf eine rapide Kommerzialisierung der Kultur zurück zu führen ist). Dieser Umstand hat zu einer starken Diversifizierung innerhalb der Szene geführt - d.h. es gibt enorm viele sub-genres, Spielarten und, äh, Rap-Geschmäcker - so dass sich die "Szene" heute einfach als zu groß und ausdifferenziert darstellt, als dass man Hoffnung haben könnte, sie innerhalb eines Partykonzepts umfassend anzusprechen.
Reggae/Dancehall hingegen ist bis zum heutigen Tag vergleichsweise überschaubar geblieben, und somit gestaltet sich auch die Szene überschaubar, und nicht in drölfzigtausend fanatische Splittergruppen zerteilt.

Die Ausdifferenzierung von Hip Hop ist aber keineswegs ein Werk des Teufels oder nur als negativ zu bewerten. Die positiven Aspekte dieser Entwicklungen hier aufzuzählen würde den Rahmen dieses sowieso bereits mal wieder überbordenden Artikels in jedem Fall sprengen, also spare ich mir das mal - deshalb nur so viel:

Ich, als Hip Hop Theoretiker und bestenfalls Gelegenheits-Besucher von Reggae/Dancehall-Parties kann nur mit etwas Wehmut feststellen, dass der Spaß und die Energie von derartigen Veranstaltungen etwas ist, was Hip Hop Parties offenbar fast unwiederbringlich abhanden gekommen ist.
Das finde ich schon etwas Schade, aber naja...nützt ja nix, wa?

Auf jeden Fall sehe ich mittlerweile KRS-One's ewiges Bestreben der organischen Verbindung von Reggae/Dancehall mit Hip Hop als ein langfristig angelegtes musikalisch-kulturelles Hilfsprojekt:
Die von mir hier aufgeführten Punkte waren dem Teacher offenbar schon früh klar, und so versuchte er durch stetige Annäherungen an jamaikanische Traditionen eine Art Wiederbelebungsprozess des Hip Hops zu initiieren, um ihn seinen Ursprüngen und schließlich auch der musikalischen Unbefangenheit und Progressivität näher zu bringen.


Mad Lion - Take It Easy von abcDPGC

Denn das darf man bei all dem Gerede von "Kultur" und ähnlichem Quatsch auch nicht vergessen: Die Reggae/Dancehall-Szene hat sich (größtenteils) ihre musikalische Autarkie und letzten Endes auch ihre Naivität bewahrt. Mit einfachsten Mitteln, und vor allem ohne das Produzieren von Retorten-Musik als Wissenschaft zu überhöhen, wird innerhalb der Dancehall-Szene ständig Neuartiges und Interessantes geschaffen, während die musikalische Entwicklung im Hip Hop sich längst in vorhersehbaren Zyklen und langfristigen Trends entwickelt. Hm.

Okay, das war's dann eigentlich auch schon, was ich erzählen wollte.
Wie gesagt ist die ganze chose mal wieder eher feststellender Natur - d.h. ich hab gar nicht den Anspruch, euch jetz irgendeine bahnbrechende Lösung für dieses Problem aufzutischen oder zu erarbeiten...
...das einzige was ich nur jedem raten kann, ist mal - trotz möglicher mannigfaltiger musikalischer Scheuklappen - eine Reggae/Dancehall-Party eurer Wahl zu besuchen [...naja...vielleicht nicht die verkiffteste Gammel-Roots-Reggae-Party in irgendner Spelunke, nameen? - Anm. d. Red.] und first hand zu wittnessen, was im Hip Hop ganz offensichtlich verloren gegangen ist.

Okay, weil's so gut passt geb ich euch nochmal meinen schon etwas älteren Reggae/Hiphop-Mix, das "Pre-Party-Tape" zur Mash-Up-Di-Place-Meets-Hip-Hop-Hurrah-Party (MudPmHHHp...) mit auf den weg, gebt's euch vielleicht einfach mal, yo:




So, nu is aber gut...
tschöss, und bis denne.
Euer Kapo des Nordflügels. Peace.

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